Der große Weg ist sehr einfach, aber die Menschen lieben die Umwege.
Laotse
„Wenn der Begriff „psychosomatisch“ oder „biopsychosoziales Modell“ mehr besagen soll als eine unverbindliche Absichtserklärung über die biotechnischen Probleme eines Patienten, seine psychischen und sozialen Nöte nicht zu vergessen, müssen wir dieses Modell für den menschlichen Körper und das Paradigma, das hinter ihm steht, revidieren. Wir müssen einen Paradigmawechsel vollziehen.“ schreibt H-J. Demmel in „Beiträge für die Begründung einer qualifizierenden, psychosomatischen Fortbildung für Zahnärzte“ zu von Uexkülls integrativem Ansatz einer psychosomatischen Medizin. Dieser Paradigmenwechsel sei vollzogen, wenn der Patient sich als Mensch angenommen fühle durch seinen Arzt und nicht als Reparaturfall abgewertet.
Aus dem Konzept seines Vaters, dem Biologen Jakob von Uexküll, demzufolge jedes Lebewesen eine feste aber unsichtbare Hülle umgibt, entwickelte Thure von Uexküll „sein Modell des komplexen Modells Mensch, in dem Körperliches, Seelisches und Soziales in vielfältiger Wechselwirkung miteinander verknüpft seien.
Thure von Uexkülls Ansatz zu einer Integrierten Psychosomatischen Medizin basiert auf der Forderung, die organischen und die psychosozialen Probleme von Kranken gleich ernst zu nehmen.
Es leitet sich her von den Erfahrungen eines in immer engere Spezialdisziplinen aufgeteilten Gesundheitssystems, das dem Menschen und seinen Beschwerden nicht gerecht werden kann, weil es sich auf eine disziplinär eingeschränkt diagnostische und pharmazeutische Behandlung von Symptomen reduziert.
Seinen Ansatz begründet von Uexküll im Fachbuch „Integrierte Psychosomatische Medizin“. Mit seinem Vorwort „Was ist und was will „Integrierte Psychosomatische Medizin“ begründet von Uexküll die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels in der biotechnischen Medizin, mit dem der „Dualismus einer Medizin für seelenlose Körper und einer Medizin für körperlose Seelen“ überwunden werden soll.
Dazu hinterfragt er zunächst generell die Genese eines Paradigmas. Er bezieht sich auf die Erkenntnis von Spaemann und Löw , derzufolge die Natur dem Menschen zwei Möglichkeiten mitgegeben habe, Naturvorgänge zu verändern und entsprechend zu deuten: durch die Hand und durch Worte und Zeichen. Aus den Grunderfahrungen dieser beiden Möglichkeiten, so der Autor, würden sich letztlich alle Welterfahrungsprinzipien (Paradigmen) herleiten, genauer, es gebe dementsprechend im Prinzip überhaupt nur zwei Paradigmen: das Paradigma der Hand für den Körper und das Paradigma des Wortes für die Seele. Diesen psychophysischen Dualismus gelte es hinsichtlich der Behandlung von Krankheiten zu überwinden.
Im Weiteren befragt von Uexküll daher folgerichtig die einseitige Vorstellung von (naturwissenschaftlicher) Theorie als einer ausschließlich durch physikalische oder chemische Prozesse begründeten „Grundlagenwissenschaft“, die einen Gegensatz zwischen Kunst und Theorie evoziert habe, der ursächlich inexistent sei.
Er weist auf die noch heute geläufige Bezeichnung ars medica, die „ärztliche Kunst“, hin und leitet mit Carlo Ginzburg die Entstehung des „ärztlichen Blicks“ aus dem Erfahrungswissen der Jägerkulturen her, sprich aus deren Gespür und operativem Jagdgeschick.
Ginzburg präzisiert dieses spezifische Wissen als „eine Fähigkeit, aus scheinbar neben-sächlichen empirischen Daten eine komplexe Realität aufzuspüren, die nicht direkt erfahrbar“ sei, das heißt die Kunst des Fährten- und Spurenlesens und ihre Erzählung davon. Auf die Medizin übertragen folgt daraus die Entstehung eines Symptomen-Katalogs ( von Indizienbeweisen ), der – wie Michel Foucault das später differenziert- dem Wesenhaften der Krankheit am nächsten komme, wenn er auch letztlich nur eine Umschreibung der wesenhaft unzugänglichen Natur der Krankheit bleibe.
Hier schließt sich argumentativ der Kreis zum ärztlichen Paradigma des Biotechnikers, wie von Uexküll den modernen Mediziner nennt. Für den Biotechniker sei in seiner Fachspezialisierung n u r das Symptom, die lokale Wirkung physikalischer oder chemischer Ursachen im Organismus, interessant.
In einem historischen Abriss erklärt er, wie diese „Austreibung der Seele aus dem Körper“ verlaufen ist. Für die Romantiker zu Beginn des 18.Jahrhunderts >sei „Natur“ noch keine gegnerische Macht gewesen, die es zu unterjochen und auszubeuten galt und das Subjekt kein störendes Element, das eliminiert werden sollte<. Dementsprechend präferiert das damalige Menschenbild einen lebenden Körper, der von einem „Netz greifbarer, farbiger, tönender, duftender und schmeckender Beziehungen“ umgeben sei, einem Netz von Sinnesenergien, einem unsichtbaren Stoff mit der Qualität des „Privaten“, des „radikal Individuellen“.
Müller
Von Uexküll bezieht sich hier auf den Arzt und Begründer der physiologischen Medizin Johannes Peter Müller (1801-1856) und verweist auf dessen Relevanz zu Konzepten, die erst hundert Jahre später diese Vorstellung vom Selbst wieder aufgreifen, so zum Beispiel das Konzept der Einheit von Organismus und Umwelt seines Vaters, des Biologen Jakob von Uexküll, oder auf die Autopoetik von Humberto Maturana, nach dem lebende Systeme sich selbst aufbauen und erhalten.Maturana
Das aufkommende Industriezeitalter mit einem radikal veränderten gesellschaftlichen Klima habe, so Uexküll weiter, diese als rein vitalistisch abgeurteilten Konzeptionen wie auch bedeutende Weiterentwicklungen, so z.B. Mario Erdheims Hinweis auf „die gesellschaftliche Erzeugung von Unbewusstheit“ zunächst zugunsten einer dogmatischen Übernahme der Newtonschen Mechanik als Grundlage einer Theorie der Medizin verdrängt. Selbst Freud, so von Uexküll, habe Psychologie „als eine noch unentwickelte Vorstufe der Physik aufgefasst, deren physikalische Formeln man früher oder später finden werde.“
Unter dem mechanistischen Eifer der Pathologen und Anatomen sei so „das Leib –Seele-Problem ein Leiche-Seele-Problem“ geworden. ( Wie wenig wir heute in der modernen Medizin von dieser Position abgerückt sind, wird klar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass aktuell in einem deutschen Krankenhaus z.B. für den schwer kalkulierbaren Verlauf der Extirpation einer Stauungsniere ein minimal invasiver Operationsvorgang praktikabel wird, bei dem der Urologe mittels Kamera durch den Bauchraum einen Nierenzertrümmerer navigiert, mit dem er das -vom Gefäß-und Gewebesystem getrennte- Organ zunächst im Körperinneren wie eine Zwiebel zerhacken muss, um das so ferngesteuert zerkleinerte Organ dann durch eine winzige Körperöffnung aus dem Patienten zu schleusen. )
Der Preis für diesen Aufschwung der Medizin zum auch unbestreitbaren Segen für unendlich viele Kranke sieht von Uexküll im „Verzicht auf die Möglichkeit, psychische und soziale Zusammenhänge mit dem, nach dem Modell der Maschine gedeuteten Körper zu sehen, ja überhaupt noch für möglich zu halten.“ Die moderne Apparatemedizin, halbherzige von ökonomischen Gesichtspunkten durchdrungene Förderungen von psychophysischen Präventivmodellen in unserer sog. „Therapiegesellschaft“, eine pharmakologisch fokussierte Psychiatrie, geschweige denn ein längst fälliges generelles Umdenken im Weltanschaulichen, Ökonomischen und Politischen belegen von Uexkülls bittere Prognose aus den 1960ern und von 1981 heute, immerhin schon 45/35 Jahre später.
Obwohl die Naturwissenschaften mit ihrem Objektivitätsanspruch bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts u.a. durch Formulierungen von Niels Bohr in die Kritik geraten sind und damit, so von Uexküll, nicht Subjektivität im Sinne von Beliebigkeit zur Debatte stehe, sondern das Subjekt des Beobachters in seiner Interaktion mit dem Phänomen seiner Beobachtung, hat noch kaum zu einem Umdenken in der Behandlung von Krankheiten geführt, sondern im Gegenteil die Machbarkeitsdoktrin einer Apparatemedizin erst befeuert.
In seiner Argumentation folgt von Uexküll Ginzburgs Feststellung, dass die „Indizien-wissenschaften“ Medizin und Psychoanalyse zurück zu führen sei auf die hier zu Beginn genannten Grundparadigmen bzw. Grunderfahrungen der Hand und des Wortes oder Zeichens, weshalb sie aber unumstößlich immer nur zu Ergebnissen kommen könnten, die – so Ginzburg- „einen Rest von Unsicherheit nie ganz vermeiden können.“
Die Übernahme der Newton´schen Mechanik in die Grundlagen der Medizin sei für die Medizin, so von Uexküll, deshalb so gravierend gewesen, weil „für Newton die Zeit im Prinzip reversibel“ gewesen sei, was ja für mechanische Abläufe wohl zutreffend ist, nicht aber für organische Entwicklungen.
Mit der Übernahme der Quantentheorie von Heisenberg und Bohr und dem damit einhergehenden Prinzip der irreversiblen Thermodynamik stehen sich nun für die Medizintheorie zwei unvereinbare Konzepte gegenüber, die nachhaltigen Einfluss auf die Definition von Gesundheit bzw. die Charakterisierung von Krankheit haben müssen.
Bereits vor 60 (aus heutiger Sicht 95) Jahren habe Viktor von Weizsäcker daher betont: „Gesundheit ist überhaupt nur dort vorhanden, wo sie in jedem Augenblick erzeugt wird. Wird sie nicht erzeugt, ist der Mensch bereits krank.“ Pathogenese sei unter diesem Gesichtsprunkt darum als Salutogenese zu fassen und Salutogense bedeute
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Im Sinne Piagets hiesse das: „Einverleibung von Umgebung“ in eine subjektive „Wohnhülle“. Das widerum impliziert ein Interaktionsmodell, das Mitdenken „der Umwelt oder individuellen Wirklichkeit, die den Körper zu einem lebenden System ergänzt“.
Dieses Interaktionsmodell ist jedoch nicht linear-kausal, sondern zirkulär oder prozessual zu begreifen, die adäquate Methode, lebende Systeme zu beschreiben, kann unter Berücksichtigung ihrer immanenten Dynamik nur systemisch sein. Die dieser Methode zugrunde liegende Systemtheorie bezöge die Aspekte „Emergenz“ und „Integration“ mit ein, die folglich einen Organismus begreifen „als dynamisches System, in dem eine Gruppe von Subsystemen durch rhythmischen Austausch von Signalen miteinander in Beziehung stehen“. Herbert Weiner
Für diesen informationstheoretischen Ansatz konstatiert von Uexküll jedoch die gleiche Einschränkung im Hinblick auf objektive Wahrheit, denn >jedes Zeichen besteht aus einem materiellen (physikalischen, chemischen oder elektrischen usw.) Zeichenträger oder Vehikel:
dem „Signal“- und einer Bedeutung oder Nachricht, die Sender und Empfänger dem Vehikel aufgrund eines „Kodex“ oder „Interpretanten“ aufprägen müssen.“
Solange dieser Interpretationsvorgang ein nur rein mathematischer bleiben, würden wir –so von Uexküll weiter- „die Objekte der von uns beobachteten Lebewesen mit u n s e r e n Objekten verwechseln“ und damit – wie Ginzburg es ausdrückte- die Einsicht ignorieren, „in dem anderen den anderen und nicht ein alter ego“ zu sehen. Das könne -so Uexküll- aber nur vermieden werden, wenn es gelinge, „die für den außenstehenden Beobachter unsichtbare Schale zu beschreiben, die dem Besitzer des Körpers eine, für ihn, unzweifelhafte Realität zeigt, ihn aber über deren Natur in äußerster Unkenntnis lässt“. Theorie der Körper-Seele-Einheit
bildquelle
Um diesem Anspruch einer „Integrierten Psychosomatischen Medizin“ gerecht zu werden, sei es – so Uexkülls Forderung- notwendig den Patienten „ auf den verschiedenen Integrationsebenen seines Körpers – der vegetativen, der animalischen und der humanen – zu erreichen.
„weltamdraht“:
Der „Einstellungswandel“, den das beschriebene „Beobachterproblem theoretisch fordert“ und den von Uexküll anthropologisch begründet, hat in unserer Gesellschaft nach wie vor noch nicht oder unter ökonomischen Sachzwängen bislang nur sehr zögerlich stattgefunden. Wir befinden uns –trotz Selbst-Management-Therapie u.ä. Konzepten gesellschaftlich- individuell und kollektiv-in einer feedback-Schleife, die gleichwohl die Illusion der Umschreibung als movens in sich trägt, die Foucault (s.o.) in Bezug auf seine Untersuchungen u.a. zur „Geburt der Klinik“ trefflich, in seinen zeitgenössischen Varianten allerdings nur hypothetisch formulieren konnte. Der Mensch ist vielmehr in unserer Gesellschaft nach wie vor ein Sklave von Anpassungsprozessen an ein Roboter_konzept , dass Wirtschaft und Politik ihm/ihr oktroyieren. Machen wir uns was vor…im Zeitalter der Simulakren .
Exzerpt v. Uexkuell: shec, 2015, Berlin
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