GEHEN

„Ich habe noch nie gern abstrakt, theoretisch, über meine Arbeit gesprochen; selbst wenn das, was ich hervorbringe, aus einem seit langem schon ausgearbeiteten Programm, einem schon länger bestehenden Projekt zu kommen scheint, glaube ich eher, meine Anregungen beim Gehen zu finden: aus der Aufeinanderfolge meiner Bücher entsteht für mich das, manchmal tröstliche, manchmal unangenehme Gefühl (weil es immer in Zusammenhang mit einem »kommenden Buch«, mit etwas Unvollendetem steht, das auf das Unsagbare verweist und dem Wunsch zu schreiben, verzweifelt entgegenstrebt), dass sie einen Weg durchlaufen, einen Raum abstecken, tastend eine Strecke markieren, Punkt für Punkt die Etappen eines Suchens beschreiben, über dessen »Warum« ich nichts zu sagen wüsste, lediglich über sein »Wie«; undeutlich spüre ich, dass die Bücher, die ich geschrieben habe, das Gefühl, dass ich dieses Bild wohl nie genau zu greifen vermag, dass es für mich etwas ist, das jenseits des Schreibens steht, ein »Warum ich schreibe«, auf das ich nur schreibend antworten kann, wobei ich unaufhörlich den Augenblick hinausschiebe, in dem dieses Bild, weil ich aufhöre zu schreiben, sichtbar werden würde, ähnlich wie ein Puzzle, das ein für alle Mal abgeschlossen ist.“


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In diesen Bemerkungen zum Schreibprozess des und von Georges Perec (* 7. März 1936 in Paris; † 3. März 1982 in Ivry-sur-Seine) sind die Bewegungsmuster des Schreibens quasi räumlich fassbar.
Selbst die innere Bewegung des Widerstrebens, des Aufhörens, um das Gesamtbild, das Warum des Schreibens als Puzzle erkennen zu wollen, ist bestimmt von der Weiterbewegung, dem Weiterschreiben.
Die Zustände fließen ineinander, lösen sich ineinander auf, bedingen einander und doch wird das eine, das »Warum« nur durch das andere, das »Wie«, bzw. das Schreiben selbst erlöst und kann es doch nie vollumfänglich beantworten. Schreibende, getrieben von Wort zu Wort, von Bild zu Bild, von Text zu Text, um ein Puzzle weiter zusammenzusetzen, das nie als Ganzes betrachtet werden kann: Schreibende zurückgeworfen aufs Fragmentarische.
Diese Bewegung bildet sich auch in jedem einzelnen Text ab, in jedem neuen Schreibversuch, eine Situation einzufangen, eine Situation abzubilden, eine Atmosphäre zu erfassen, einer Figur nahe zu sein. Immer bleibt das in der Bewegung bruchstückhaft, immer produziert sich mit jedem Wort, jedem Satz eine weitere Leerstelle. Der Text lebt von dieser Binnenspannung, dass nicht alles gesagt werden kann, was gesagt werden könnte oder dem vermeintlich Unsagbaren entrissen werden soll.
Die Anregung zum Schreiben selbst wird aus dem Gehen bezogen. Das setzt ein In-sich- Gefasstsein voraus. Oder es ist ein Taumeln, was auch gut sein kann. Nie aber ein Strammstehen vor der Idee, was aber als innerer Tonus das Gehen u.U. doch beeinflussen könnte. Zugleich bedeutet dieses In-sich-Gefasstsein auch die Spannung, die notwendig ist, Impulse zu empfangen, wach zu sein, aufmerksam. Das gelingt am besten in der langsamen Bewegung des Gehens. Gleich, ob es nun als Fortbewegung von Text zu Text oder als Bewegung von Wahrnehmung zu Wahrnehmung, von Gedanken zu Gedanken aufgefasst wird, von Satz zu Satz, es ist keine Trägheit darin. Obwohl auch sie eine Rolle spielt. Diese Dynamik lässt sich genauer erfahren; aber nur im Gehen und Schreiben selbst. Das dazwischen geschaltete Schauen verbindet das Gehen mit dem Schreiben, ist die Brücke zwischen dem In-sich-Gefasstsein und dem Auf- etwas-Gefasst-sein.


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Der äußeren Bewegung entspricht so die innere, beide gehören zusammen, bedingen einander. So lässt sich ein Text – wie bei Perec von Buch zu Buch als Werkstrecke- als die Wegstrecke bezeichnen, entstanden aus den Fragmenten der Wahrnehmung. Das Schauen steht hier stellvertretend als an den prominenten Sehsinn gekoppelt und doch nicht darin sich erschöpfend für ein Zusammenspiel der Sinne, aller Sinne und des Leibes, der nicht der Körper ist, sondern seinerseits eine Bewegung meint: eine Lebensbewegung, die sich nicht im Wirken der Sinne erschöpft, sondern auch bedingt wird durch das, was auf sie einwirkt.
In diesem Wechsel oder in dieser Gleichzeitigkeit ist der Leib Träger von Informationen. Nicht grundlos betitelt Perec seine Überlegungen hierzu: „Penser / Classer“ oder deutsch „In einem Netz gekreuzter Linien“ (deutsch manholt verlag Bremen 1996) Sie leiten ihn in Versuche, den Prozeduren des Schreibens durch Ordnungsprinzipien auf die Schliche zu kommen, um das Puzzle sozusagen doch zu vollenden.
Daran sind schon andere gescheitert.
Das wäre ja wie der Versuch, jeden Atemzug in seiner Länge, Tiefe, Breite zu dokumentieren und mit den äußeren und inneren Bedingungen desjenigen, der atmet, abzugleichen.
Das wird auch versucht.
Das eigene Denken zu klassifizieren.

„Wie denke ich, wenn ich denke? Wie denke ich, wenn ich nicht denke?“

Hier gerät der Puzzler an den Rand des Absurden. Und dahinein auch wird er sich retten:

„Wie denke ich gerade in diesem Augenblick, wenn ich daran denke, wie ich denke, wenn ich denke? »Denken/Ordnen« zum Beispiel lässt mich denken an »lenken/borden« oder auch »schwenkend horten« oder auch »schenk´n Orden«. Ist es das, was man denken nennt? (manholt ebd. S.133)

Und so kreist der Dichter um das Schreiben wie „um“ einen Flussverlauf. Mal läuft er aufwärts, dann abwärts, dann kauert er wie ein Affe auf einem Baum oder Felsvorsprung über dem Lauf, kann die Quelle nicht entdecken und das Delta nur erahnen. Er wird den Sprung wagen und sich auf den Boden begeben und den Lauf des Flusses entlangwandern, geduldig, in sich gefasst und gefasst auf alles, was hinter der nächsten Kurve erscheint.

„Mäander inmitten der Wörter: ich denke nicht, sondern ich suche meine Worte: in dem Haufen muss es doch eins geben, das kommt, um diese Unschlüssigkeit, dieses Zögern, dieses Hin und Her, das später »etwas besagen möchte«, deutlich einzukreisen.“

Und später kommt Perec diesem Einkreisen näher, wenn es auch das paradoxe Einkreisen eines Gehens ist, das sich immer weiter fortbewegt. Oder doch zurückkehrt? Zum Anfang? Zur Kindheit womöglich?
Möglicherweise aber ist es auch eine Bewegung des Gehens, die mit Gehen-müssen korreliert, mit dem Verlust der (zerstörten) Heimat, einer Flucht-Bewegung, die der weiter oben skizzierten diametral gegenübersteht und doch verbunden zu sein scheint mit diesem entfernten, gegensätzlichen Pol: der Kindheit.?.

„Ellis Island“ de George Perec ou Le parcours des immigrants

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